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Inszenierung

Der Penthesilea-Komplex

Zwischen Individualität und gesellschaftlicher Ordnung

An Heinrich von Kleists 1808 veröffentlichtem Trauerspiel „Penthesilea“ um die gleichnamigr Amazonrnkönigin lässt sich bis heute gewinnbringend herum interpretieren, zerschmettert der zu Lebzeiten erfolglose Außenseiter hier doch ebenso radikal wie spannungsgeladen das Gefängnis der Geschlechterstereotype und das zwei Jahrhunderte vor aktuellen Gender-Diskursen: Manner – Frauen, Oben – Unten, Reich – Am, Weiß – Schwarz, Rassismus, Sexismus, Elend, Gewalt und Verteilungskampf der Ressourcen – das sind die brennenden Themen unserer Tage. Ob die Gleichheit der Geschlechter funktionieren kann und wie, darauf gibt Kleist eine krasse Antwort:

Er schafft mit Penthesilea und dem griechischen Kämpfer Achill zwei Superhelden als Ideenträger, die beide Frau und Mann in einem sind und am Konflikt zwischen Individualität und gesellschaftlicher Ordnung zerbrechen. Für eine Liebe sind sie stark genug, trotzdem zerfetzt die Amazonenkönigin am Ende ihren Geliebten in einem orgiastischen Blutrausch mit blanken Zähnen, bevor sie sich selbst tötet.

Ganz großes Drama also, und damit eine Steilvorlage für Regisseurin Grete Linz, die jetzt mit fünf ihrer Schauspielschüler°inncn einen facettenreichen „Penthesilea-Komplex“ als erste Inszenierung nach dem Lockdown auf die Experimentalbühne im E-Werk bringt. Nüchtern betrachtet ist es eine Deutschstunde mit Anspruch, stimmungsvollem Sound (Marvin Lawton), tollen Beats und RAPS (Artur Grenz, Michael Rubin), packenden Szenen und einem starken, aber stellenweise auch zu textlastigem Chor. Inhaltlich wird der Bogen vom Trojanischen Krieg im alten Griechenland über die Französische Revolution bis ins Heute gespannt, samt Exkursionen in Kleists homosexuelle Biografie und die Geschichte des Frauenkampfs.

Auf jeden Fall guckt man Anaïs Amann, Elisa Helferich, Jan Frederik Saure, Marvin Lawton und Sujit Kuruvilla richtig gerne zu: In androgyn-zeitlosem Unisex-Look aus Wickelrock und schwarzen Bustiers wirbeln sie energiegeladen über die Bühne, kommentieren und schlupfen in unterschiedliche Rollen. Mittendrin liegt ein Berg Maler-Folie, der mit starken Lichteffekten (Lion Koch) mal als bewegte Wasseroberfläche, Feuerbrunst oder tosendes Schlachtengetümmel bespielt, aber auch blitzschnell zu Kleidern gewickelt wird. Im Hintergrund zeigen Video-Projektionen (Marvin Lawton, Anaïs Amann) eine karge, archaische Welt aus Wasser, Erde, Luft (Konzept Bühne, Kostüme: Grete Linz).

Perfektes Setting fur eine klassische griechische Tragödie also, auf die hier allerdings nur Schlaglichter geworfen werden. Schlüsselszenen in Original-Blankversen werden zum Anschauungsmaterial für eine intellektuelle, dabei kurzweilige und dynamische Auseinandersetzung mit den Themen Macht und Geschlecht, Ordnung und Individualität (Historischer Support: Ingeborg Waldherr). Prima Oberstufenklassen-Stoff rund um Kleist und das Penthesilea-Thema also, dem man sich dank moderner Lüftungsanlage und durchdachtem Sicherheitskonzept gut anvertrauen kann. Deswegen gibt die Experimentalbühne auch so viele Vorstellungcn. Bleibt zu hoffen, dass sich der große Einsatz auch finanziell rechnet, sind doch schon die Gastauftritte im September bei Theaterfestivals in Kroatien und Marokko der Pandemie zum Opfer gefallen.

Kultur Joker (Monika Klötzer), 1. Oktober 2020

 

Theatralischer Hybrid: Grete Linz inszeniert „Der Penthesilea-Komplex“ für die Experimentalbühne im Freiburger E-Werk

Heinrich von Kleist hat viele Figuren geschaffen, denen „auf Erden“ wie er in seinem Abschiedsbrief an seine Schwester über sich selbst schreibt, „nicht zu helfen war“. Vielen seiner Figuren war auch auf der Bühne nicht zu helfen, erst recht nicht zu seinen Lebzeiten. Es dauerte, bis seine Stücke anerkannt waren. Und tatsächlich ist es ja oft so ungeheuerlich, was hier passiert, dass Heinrich von Kleist auf das Mittel der Mauerschau zurückgreift. Etwa, wenn die Amazonenkönigin Penthesilea Küsse mit Bissen verwechselt und ihren Geliebten Achill zerfleischt. Ihren Selbstmord zelebriert Kleist hingegen als rein sprachliches Kunstwerk auf offener Bühne. Da ist eine Frau, die ihre Gefühle zu einer Waffe gegen sich selbst schmiedet. Kleists Stücke, insbesondere sein Trauerspiel „Penthesilea“, gehören fraglos zum großartigsten und anspruchsvollsten, was Theatermacher sich zumuten können.

„Der Penthesilea-Komplex“ der Experimentalbühne im Freiburger E-Werk trägt dem Rechnung. Es ist ein theatralischer Hybrid, der um den Stoff kreist, das Kleist’sche Drama, aber auch um Emanzipation, Kleists stilistische Eigenheiten, Psychologie und Homosexualität. Mitunter wirkt die Inszenierung von Grete Linz wie ein Reader’s Digest, ein umfangreicher Anmerkungsapparat, eine anspruchsvolle Deutschstunde. Sicher, all das sollte der Subtext einer gelungenen Regiearbeit sein. Doch „Der Penthesilea-Komplex“ ist zumindest eine sehr legitime Annäherung an ein komplexes Stück. Und er bietet den fünf jungen Darstellern Anaïs Amann, Elisa Helferich, Jan Frederik Saure sowie Marvin Lawton und Sujit Kuruvilla die Möglichkeit, verschiedene Tonlagen auszuprobieren – von Sprechgesang und Chor bis hin zu Analysen und Originaltext: Und ein Raum zum Experiment soll die Bühne ja sein.

So gibt es komische Szenen, etwa das verdruckste Verhältnis zur – wie auch immer gepolten – Sexualität, die sich in Schwärmereien Bahn bricht. Doch Kleists Werk allein auf eine unausgelebte Homosexualität zurückzuführen, greift dann eben doch zu kurz. Dann hätte es mehr Heinrich von Kleists geben müssen. Doch dies ist nur ein Erzählstrang unter vielen, ein anderer ist die Emanzipationsgeschichte, die in bedeutenden historische Frauenbiografien erzählt wird. Hier erweist sich der Unisex-Look von Bustier und langem Wickelrock, über den Zellophanfolie drapiert wird, um die verschiedenen Moden und Rocklängen zu veranschaulichen, als sehr wirkungsvoll.

Wie überhaupt das zurückgenommene Setting dieser Folie und wechselnden Projektionen von Meer, Himmel und Strand wohltuend die Dramatik so gar nicht illustriert. Nur einmal durchbricht Linz dieses Konzept. Wenn Penthesilea die Bluthunde loslässt, sieht man die rot und schwarz geschminkten Gesichter der Schauspieler auf der Leinwand. […] Sicher: Heinrich von Kleists „Penthesilea“ ist komplexer und eine absolute Zumutung, doch für beginnende Kleist-Leser und -zuschauer ist dies ein guter Start.

Badische Zeitung (Annette Hoffmann), 10. September 2020